Der Vortrag untersucht das Wiederauftreten epischer Erzählformen in Raoul Schrotts Erste Erde: Epos. In einer textnahen Analyse, die eine besondere Aufmerksamkeit für narrative Form, sprachliche Ästhetik und Schriftbild entwickelt, hebt der Vortrag zwei Eigenschaften hervor, die ich als Bestandteile einer Poetik der Erd-Literatur bezeichnen möchte. Erstens findet die plurale Eigenzeitlichkeit der Natur eine strukturelle Entsprechung in der heterogenen narrativen Struktur von Schrotts Text. Die Erde, ihre gedehnte Entstehungsgeschichte als ein komplexes und dynamisches Zusammenspiel von unterschiedlichen Prozessen und ökologischen Subsystemen, wird literarisch lesbar gemacht. Heterogene Erzählstränge, mythische, naturwissenschaftliche und religiöse Modelle stehen als unterschiedliche Formen der Weltaneignung nebeneinander und werden miteinander verschaltet.Zweitens zeigen sich in der damit einhergehenden Auflösung einer linearen zeitlichen Abfolge Strukturelemente, die an die klassischen Diskussionen zur Gattungsbestimmungen des Epos erinnern. In Abgrenzung zum Drama besitzt das Epos kein unmittelbares narratives telos. Durch seine materielle Fülle ist es nicht auf die narrative Lösung eines bestimmten Problems ausgelegt, sondern setzt sich aus unterschiedlichen und gleichberechtigten Erzählelementen zusammen. In dieser Hinsicht gewinnt das Epos eine zeitliche Struktur, die sich in Beziehung zur gedehnten und nicht-linearen Zeitlichkeit erdgeschichtlicher Prozesse stellen lässt. Das Epos, so die Konklusion des Vortrags, gewinnt in dieser formalen Gestalt eine unvorhergesehene Aktualität als eine Erd-Literatur.