Seminar zur österreichischen Gegenwartsliteratur in Japan オーストリア現代文学ゼミナール
Shihoko Ora Poetik des Alltäglichen − Daniel Wissers dritter Roman Ein weißer Elefant

Daniel Wissers Äußerung, dass es in seiner Jugend für ihn nur Gedichte, von der Barockzeit beginnend über die Klassik und die Romantik bis hin zur konkreten Poesie, gegeben habe, deutet darauf hin, dass seine Literatur, trotz ihres stark prosaisch anmutenden Zuges, doch auf einem sehr poetischen Nährboden verwurzelt ist.
Sein 2003 erschienener erster Roman Dopplergasse Acht. Roman in fünfundvierzig Strophen ist ein gutes Beispiel dafür. Dieser gedichtartige Roman ist eigentlich eine Ode an eine von der Ich-Figur idealisierte Frau namens Ingrid und gleichzeitig ein literarischer Versuch, die Frage nach der „Liebe“ quasi philosophisch zu beantworten.
Hier sieht man bereits für Wisser charakteristische Züge: Neigung zu einer kleinen Welt, die im Roman topographisch dargestellt wird; Hinwendung zu so genannten kleinen Leuten und ihrem Alltag. Durch die liebevolle Beschreibung der namenlosen und banalen kleinen Welt, die ebenso wie die große durch Morde und andere Schrecken gefährdet ist, erhält der Liebesroman zusätzlich einen politischen Aspekt.
Diese Verbindung von „Poesie und Politik“ und ihre jeweils dem Thema entsprechend gewählte literarische Darstellung nenne ich „Poetik des Alltäglichen“. Sie steht im Zentrum von Wissers Schreibpraxis.
Im zweiten Roman Standby (2011) wird mit der Darstellung einfacher Angestellter in einem Callcenter, die ebenso wie Spitzenmanager unter dem Burnout-Syndrom leiden, der politische Aspekt stärker betont. Über unsere absurde Arbeitswelt wird eine thematische Verbindung mit dem dritten Roman, „Ein weißer Elefant”, hergestellt, in dem es um “die Praxis des Kaltstellens mitsamt Bore-Out” geht, die “heute in Großkonzernen, Banken und Versicherungen gängig (ist), wenn Dienstverhältnisse aus bestimmten Gründen nicht einfach gekündigt werden können“. (Klappentext)
Bereits der Romananfang ist bernhardesk: Hier zeigt sich ein Duktus, der geprägt ist von Übertreibung, Wiederholung und Redundanz. Auch ein Hang zum Kafkaesken ist zu spüren, der sich in der Konstellation und dem Schicksal der namenlosen Figuren äußert, die im Roman als „Er und Ich“ auftreten.
In meinem Referat wird durch einen genaueren Blick auf die thematischen, inhaltlichen und sprachlichen Ebenen das typisch wissereske dieser Schreib- beziehungsweise Erzählweise darzustellen versucht.

Shihoko Ora (Dr.), hat bei Prof. Wendelin Schmidt-Dengler an der Universität Wien über Ingeborg Bachmann promoviert. Arbeitsschwerpunkt: Literatur von Frauen. Hat u.a. „Simultan“ von Ingeborg Bachmann ins Japanische übersetzt. Prof. i. R., derzeit Lehrbeauftragte an der Nihon Universität.