32. Seminar zur österreichischen Gegenwartsliteratur in Japan
オーストリア現代文学ゼミナール
28. Oktober 2023
Sophia Universität, Tokio
Mit Milena Michiko Flašar
Thomas Stangl

„Dieses Buch duldet kein Korsett, es sprengt alle Grenzen, ist ein Sturzbach an uferlosen Sätzen, die nicht zur Ruhe kommen, weil kein Land in Sicht.“ So enthusiastisch begrüßte Anton Thuswaldner in den Salzburger Nachrichten den Erstlingsroman der einzige Ort des Wiener Autors Thomas Stangl (geb. 1966). Stangl erhielt damals den Aspekte-Literaturpreis des ZDF für das beste Prosa-Debüt, und eine Reihe weiterer Preise sollte folgen, darunter 2011 der Erich-Fried-Preis sowie unlängst die Ehrengabe der Deutschen Schiller-Stiftung.

Thuswaldners Urteil fand durch weitere Bücher Stangls Bestätigung. Die Neigung zum Ausufern aufgrund einer archaischen Erzählkraft blieb erhalten, es wurde aber auch klar, daß sie durch eine außergewöhnliche Erzählkunst, ein Gespür für narrative Bewegungen immer wieder zur jeweils angemessenen Form fand. Zu einer Vielfalt von Formen, genauer gesagt, denn unter anderem zeichnet sich Stangls Kunst durch die Fähigkeit aus, unterschiedliche Blickwinkel der Figuren und manchmal ein und derselben Figur zusammen- oder auch gegeneinanderzuführen, um sie im Roman zu bündeln.

Über Stangls vierten Roman Regeln des Tanzes schrieb Leopold Federmair 2013 in der Neuen Zürcher Zeitung, perplex und zugleich berührt: „Die meisten Figuren bleiben namenlos, sie tragen bloße Pro-Nomen, so daß die Identitäten verwirrt werden, was aber der Intension des Autors entspricht. Wie können die Geschichten, die ans Unsagbare, diesen alten romantischen Topos rühren, überhaupt dargestellt werden? Durch Worte? Oder durch Tanz? Beides? Die drängenden Wortfolgen, die Thomas Stangl meisterlich zu bilden versteht, erzeugen nicht nur Spannung, sie zeugen auch vom Begehren, dasjenige darzustellen, was man nicht darstellen kann.“

Dabei verweisen die kunstvollen, gleichsam tänzerischen Sprach- und Erzählformen immer wieder auf politisch brisante Inhalte. Stangl schweift gern in die Ferne, mit Vorliebe nach Afrika, auf kolonialen Spuren, schon in seinem ersten Roman und nun auch in seinem vorerst letzten, Fremde Verwandtschaften (2018). Wie einst Joseph Conrad mit Herz der Finsternis versucht Stangl, diesen fremden Kontinent, der uns in Europa neuerdings näherrückt, ob wir dies wollen oder nicht, erzählend zu verstehen, nun freilich aus postkolonialer Sicht.

Stangl, nicht nur ein feinsinniger Erzähler, sondern auch ein umsichtiger Essayist und aufmerksamer Beobachter des Zeitgeschehens, sorgt sich aber mindestens ebensosehr um das Nächstliegende, die Verhältnisse in seiner Heimat. In Regeln des Tanzes hatte er versucht, die besondere Atmosphäre zu schildern, die in Österreich während der rechtskonservativen Koalition (ÖVP-FPÖ) zu Beginn des 21. Jahrhunderts herrschte. Die Figuren sind vom „Widerstand“ angezogen, den damals ein Teil der Gesellschaft gleichsam wiederentdeckte. Mittlerweile haben wir in Österreich wieder eine solche Koalition – und die entsprechenden Bedenken und Befürchtungen vieler Intellektueller, darunter auch Thomas Stangl. Unmittelbar vor dem Antritt der derzeitigen Regierung interessierte er sich besonders für die Figur des Bundeskanzlers Sebastian Kurz, der für ihn eine vorsätzliche Politik der Inhaltsleere repräsentiert, eine neue, medienaffine Realpolitik. In einem Essay in der ZEIT schrieb Stangl: „Die vollkommene Inhaltslosigkeit – mit milder Stimme vorgetragen, durch ein Gerüst traditioneller Gemeinplätze und aktueller Vorurteile hindurchscheinend – gibt den Menschen Vertrauen, sie nimmt der pathetischen Inszenierung nichts von ihrer Wirkung, verhindert aber zugleich, dass sie als gefährlich, historisch belastet oder aber in ihrem Pathos lächerlich wahrgenommen wird.“

Wie kann man solche, durchaus neue Verhältnisse erzählerisch darstellen, mit welchen Mitteln, welcher Sprache? Das ist eine der großen Fragen, denen sich Stangl in seinem Werk stellt. Wir dürfen heuer in Nozawa Onsen einen der sensibelsten und zugleich brisantesten Schriftsteller der deutschsprachigen Literatur erwarten.

Links

http://www.thomasstangl.com/
https://de.wikipedia.org/wiki/Thomas_Stangl_(Schriftsteller)
https://www.droschl.com/autor/thomas-stangl/

Ehrungen

  • 2004 Aspekte-Literaturpreis für den Roman Der einzige Ort
  • 2004 Hermann-Lenz-Stipendium
  • 2005 Literaturförderpreis des österreichischen Bundeskanzleramts
  • 2007 Telekom-Austria-Preis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb
  • 2007 Literaturpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft
  • 2009 Stipendium des Heinrich-Heine-Hauses der Stadt Lüneburg
  • 2009 Manuskripte-Preis des Landes Steiermark
  • 2010 Literaturpreis Alpha
  • 2011 Erich-Fried-Preis
  • 2019 Wortmeldungen-Literaturpreis für die Erzählung Die Toten von Zimmer 105[1]
  • 2019 Ehrengabe der Deutschen Schillerstiftung

Werke

  • Der einzige Ort. Roman, Droschl, Graz 2004, ISBN 978-3-85420-649-1.
  • Ihre Musik. Roman, Droschl, Graz 2006, ISBN 978-3-85420-709-2.
  • Was kommt. Roman, Droschl, Graz 2009, ISBN 978-3-85420-752-8.
  • Reisen und Gespenster. Essays und Erzählungen, Droschl, Graz 2012, ISBN 978-3-85420-791-7.
  • Regeln des Tanzes, Roman. Droschl, Graz 2013, ISBN 978-3-85420-649-1
  • Freiheit und Langweile, Essays. Droschl, Graz 2016, ISBN 978-3-85420-981-2
  • Fremde Verwandtschaften, Roman, Droschl, Graz 2018, ISBN 978-3-99059-009-6

Call for Papers

Das 28. Seminar zur österreichischen Gegenwartsliteratur in Nozawa Onsen beginnt am Freitag (Abend), den 15. November. Bis Sonntag, den 17. November diskutieren dann die Seminarteilnehmer Thomas Stangls Werk im Dialog mit dem Autor. Vorschläge für Referate werden ab sofort entgegengenommen. Zusätzlich zu Arbeiten, die sich mit einem Einzelwerk befassen bzw. einen bestimmten Teilaspekt vertiefen, und solchen, die sich aus verschiedenen Perspektiven mit dem Seminarbuch (Fremde Verwandtschaften) beschäftigen, sind auch Überblicksreferate willkommen, die grundsätzliche Fragestellungen aufwerfen. Vorträge sollten zwischen 20 und 25 Min. dauern, das Abstract maximal 150 Wörter lang sein.

Einreichen von Referatsvorschlägen ab sofort bei Masahiko Tsuchiya (tsuchiya [at-mark] ngu.ac.jp)

Anmeldung

Anmeldungen für die Teilnahme bis 31. Juli.

Abgabetermin für das Abstract ist der 30. September.

Stipendium

Das Kulturforum der österreichischen Botschaft finanziert zwei Stipendien für japanische Studierende der Germanistik/Literaturwissenschaft (Ersatz der Unterkunftskosten).

Um sich für ein Stipendium zu bewerben, senden Sie uns bitte die
erforderlichen Unterlagen zu:

  • Kurzer aussagekräftiger Lebenslauf
  • Statement, warum die Bewerbung erfolgt, was Sie sich von der
Teilnahme am Seminar zur österreichischen Gegenwartsliteratur erwarten
  • Empfehlungsschreiben eines Professors der Hochschule aus dem hervorgeht, dass das Sprachniveau der Antragstellerin/des Antragsstellers zur Teilnahme am Seminar zur österreichischen Gegenwartsliteratur befähigt (sehr gutes B2 oder höher)

 

Einsendeschluss ist der 10. Oktober 2019. Alle Bewerberinnen und Bewerber werden bis 15. Oktober 2019 über das Auswahlergebnis
informiert.

Für die Einsendung der Unterlagen verwenden Sie bitte dieses Formular.

Thomas Stangl
Foto: ©Peter-Andreas Hassiepen
Freitag, 15. November 2019
18:30Abendessen
20:30Einfühlung und Genauigkeit – Einführung in die Erzählpoetik Thomas StanglsLeopold Federmair
21:00Erste LesungThomas Stangl
Samstag, 16. November 2019
09:30Gnadenlose Bodenlosigkeit und große ZärtlichkeitMiyuki Soejima
10:15Zweite LesungThomas Stangl
10:45Pause
11:00Thomas Stangls introspektive Prosa vor dem Hintergrund der umstrittenen Tradition der wissenschaftlichen SelbstbeobachtungAnn Cotten
12:00Pause
15:00Raum, Körper und Geister in „Die Geschichte des Körpers“ und „Reisen und Gespenster“ von Thomas StanglKyoko Tokunaga
15:45Erinnerungen an die Menschheit – über Thomas Stangls Erzählband „Die Geschichte des Körpers“Walter Vogl
16:30Pause
16:45WerkstattgesprächThomas Stangl und Leopold Federmair
17:30Dritte LesungThomas Stangl
18:30Abendessen
20:00Video - Filmaufnahme eines Interviews mitThomas Stangl
Sonntag, 17. November 2019
09:30Literarische Texte, Räume und Körper Über Essays von Thomas StanglChristian Zemsauer
10:15Fremdheit im Kontext des (Post)Kolonialismus im Werk von Thomas StanglLina Bittner
11:00Pause
11:15Vierte LesungThomas Stangl
12:00AbschlussdiskussionThomas Stangl und Leopold Federmair