Nava Ebrahimi thematisiert in ihren Werken mit einer Mischung aus Trauer und Humor die Ängste und Einsichten, die mit ihrer instabilen Identität einhergehen. Diese Instabilität ergibt sich aus dem Bewusstsein, gleichzeitig in unterschiedlichen Gesellschaften und Generationen mit jeweils eigenen Wertesystemen zu existieren: zwischen Europa (Deutschland und Österreich) und dem Iran, zwischen der Generation der Großeltern und Eltern sowie ihrer eigenen Generation, wobei auch Alters- und Geschlechtsunterschiede eine zentrale Rolle spielen. Besonders in ihren Romanen kommen diese Themen durch fein gezeichnete Darstellungen menschlicher Beziehungen und dynamische Handlungsentwicklungen zum Ausdruck.
Dieses Referat widmet sich Ebrahimis Debütroman Sechzehn Wörter (2017), der diese Identitätskonflikte exemplarisch darstellt. Das Werk beschreibt die Erlebnisse und Erinnerungen der Ich-Erzählerin und Protagonistin Mona, die sie während und nach einer Reise in den Iran anlässlich der Beerdigung ihrer Großmutter verarbeitet. Ausgelöst durch den Tod der Großmutter, hinterfragt Mona ihre Vergangenheit und ihre Beziehungen zu Großmutter, Mutter und Vater anhand von sechzehn Schlüsselwörtern, die sich einer einfachen Übersetzung ins Deutsche und einem klaren Verständnis entziehen. Durch diese Erinnerungsarbeit erkennt sie, dass ihr bisher als selbstverständlich empfundenes Selbstbild auf den verborgenen Handlungen ihrer Großmutter basiert. Diese Einsicht eröffnet ihr einen neuen Blickwinkel, der ihre Existenz – zuvor als unvermeidbar wahrgenommen – als etwas Veränderliches erscheinen lässt. So gelingt es ihr, sich von der Präsenz ihrer Großmutter zu befreien und einen Schritt in Richtung „Freiheit“ zu machen.
Interessanterweise wird ein Geheimnis um Monas biologische Herkunft auf metaphorische Weise enthüllt: Zwischen den regulären Kapiteln, die aus Monas Erlebnissen und Erinnerungen bestehen, ist ein Kapitel mit dem Titel „24+1 Beispiele kindlicher Pietät“ eingefügt. Dieses besteht aus 25 Beispielen kindlicher Pflicht, von denen 24 auf klassische Figuren der chinesischen Literatur zurückgehen und eines auf Monas Mutter verweist. Der Großteil dieses Kapitels basiert auf dem Text „24 Beispiele kindlicher Pietät“ aus der Yuan-Dynastie (13.–14. Jahrhundert), zusammengestellt von dem chinesischen Gelehrten Guo Jujing. Diese Einfügung lässt sich dadurch erklären, dass Monas Vater ein iranischer Reformist war, der während der Mao-Ära in China studierte, später jedoch nach der Islamischen Revolution im Iran aus der Gesellschaft ausgeschlossen wurde. Dennoch bleibt der Kontext dieser Einfügung im Roman ohne explizite Erklärung, wodurch das Kapitel strukturell von den übrigen fünfzehn Kapiteln abweicht, die sich jeweils um die Bedeutung eines schwer verständlichen Wortes und die damit verbundene Auseinandersetzung mit Monas Vergangenheit drehen.
Der Text „24 Beispiele kindlicher Pietät“ ist im asiatischen Raum, der historisch stark von der chinesischen Kultur beeinflusst wurde, relativ bekannt, während er im deutsch- und persischsprachigen Raum weitgehend unbekannt ist. Dieses Referat erläutert daher diesen Text und untersucht das Motiv der kindlichen Pietät sowie dessen metaphorische Bedeutung im Roman.