Die heutige Literaturwissenschaft sieht ein literarisches Werk als Sonderfall gesellschaftlicher Kommunikation. Folgt man Metzlers Einführung in die Literaturwissenschaft aus dem Jahr 2017, so „ist Literatur ein spezieller Fall in der Welt der Texte. Sie funktioniert nach eigenen Gesetzen und baut eigene Welten auf. Über diese Option wird es ihr erst möglich, sich auf die gesellschaftliche Welt zu beziehen. Als Schriftgebäude ist der Text dafür prädestiniert, fiktive Welten zu entwerfen, die über die konkrete Situation der Entstehung hinausgehen.“ (S. 3)
Das hier zu behandelnde Büchlein (Der Suizid des Otto Weininger aus der einzig anständigen Perspektive erzählt) hat insgesamt nur 24 Seiten, ist aber m. E. inklusive der schmalen Seitenanzahl und auch der paratextuellen Elemente wie Buchform, Cover-Darstellung usw., ein exemplarisches Beispiel für diese literaturwissenschaftliche Sichtweise.
Das Büchlein, das zwischen drei dickeren Wälzern der Autorin: Das flüssige Land (2019; 350Seiten), DAVE (2021; 432Seiten) und Die Inkommensurablen (2023; 352 Seiten) situiert ist, sieht wie ein Zwerg zwischen Monstern aus. Umso mehr neugieriger fragt man sich, warum sich die Autorin Edelbauer mit einer so legendäre Kultfigur wie Weininger in dieser Form auseinandergesetzt und welche Intention sie damit verbunden hat.
In meinem Vortrag wird untersucht, was die Autorin meint, wenn sie dem Titel eine Formulierung wie „aus der einzig anständigen Perspektive erzählt“ hinzufügt und was für eine Erzählweise das ist, die ich hier als „revisionistisch-detektivisch” bezeichnet habe.
Dabei wird jenes Doppelgänger-Motiv von Ingeborg Bachmanns Roman Malina (1971), dessen weibliche Ich-Figur nach der Verfertigung der Briefe an ihren Anwalt zu sterben bereit ist und in einem Riß in der Wand verschwindet, mit der Selbstmörder-Figur Weininger verglichen.
Bei Bachmann bleibt die männliche Figur Malina, der das Vermächtnis der verschwundenen weiblichen Figur vernichtet hat, allein in der Wohnung zurück und der Roman schließt mit dem bekannten Satz „Es war Mord“. Bei Edelbauer wird die Hauptfigur Otto, die, wie Weiningers Grundprinzip in seinem Buch Geschlecht und Charakter, aus einem männlichen Du- und einem weiblichem Ich-Teil besteht und gleichsam bisexuell dargestellt wird, durch die Anweisung des weiblichen Teils in den Tod geschickt. „Das ist etwas in dir, das ja sowas von genielos ist. Ist sie das, die zukünftige Frau, das Weib, das nach der Teilnahme an der Gesellschaft drängt? Musst du dich erschießen, damit ich dir nicht zu nahe rücke?“ (S. 22f.)