Seminar zur österreichischen Gegenwartsliteratur in Japan オーストリア現代文学ゼミナール
Leo Schlöndorff Innere Stadt – Wimmers Wien und die kulturelle Geografie der Stadtmitte

Wenn es sich so verhält, dass die öffentlichen Plätze und Straßen einer Stadt die Bühne ihrer Einwohner sind, dann ist das Stadtzentrum, in Wien also die Innere Stadt, zweifelsohne die Bühnenmitte. Der Mittelpunkt der Bühne ist in der Dramatik wiederum kein beliebiger Ort, sondern lädt die ebendort inszenierte Handlung mit besonderer Bedeutung auf: Hier geschieht der Königsmord, die Verführung, der Verrat, die tragische Peripetie. Wohl gerade deshalb löst sich im postdramatischen Theater das zentrierte Bühnenraster zusehends auf, die Mitte erscheint mitunter nachgerade als unbespielbar. Parallel dazu verschwindet in der postmodernen Stadt das Stadtzentrum, die Geschäftsleute flüchten in die Einkaufszentren an der Peripherie, die Bewohner in die Vorstädte und Grünbezirke, schlechterdings nach Suburbia. Doch gilt dies auch für Wien? Einerseits hat sich der Erste Wiener Gemeindebezirk nach 1945 dramatisch gewandelt, wurde zum Opfer der Kommerzialisierung in Form von Souvenirläden, Penthouse-Lofts, Szenebars und anderer Geschmacklosigkeiten. Andererseits ließen sich die charakteristischen Figuren, die Flaneure, die Kaffeesieder, die Literaten, die Obdachlosen, die Huren und Detektive, nie wirklich vertreiben, haben ihr Territorium in unermüdlicher Weise immer wieder zurückerobert, spucken nimmermüde der habsburgerseligen und mozartsüßen Touristikindustrie in die Suppe. Den vorstädtischen Lugner-Cities und Cineplexx-Anlagen zum Trotz, scheinen immer noch alle in die Innere Stadt zu drängen, versammeln sich vor der Kulisse ihrer barocken Pracht, so auch in Herbert J. Wimmers Roman Innere Stadt:

hans moser verlässst schloss schönbrunn und tritt hinaus auf
den praterstern, wo ihn marilyn monroe umhalst. aus der
gentzgasse kommt yves montand gelaufen, er verfolgt den
paul hörbiger, von dem er glaubt, dass er seine tochter an-
nie rosar geschwängert hat. die pestsäule, vor der sich die
szene abspielt, bekommt haarrisse, die sich im filmmaterial
fortsetzen. marcello mastroianni erklettert die barocke form. (83)

Die Pestsäule, neben dem Stephansdom die zweite hochaufragende, vormoderne Einkerbung in der Mitte der Stadtmitte, zieht sie nach wie vor alle an, die Künstler und Entertainer, die aufgehenden und verhinderten Stars der Stadt und darüber hinaus. Von dieser Spannung lebt letztlich auch der hier zu besprechende Text Wimmers. Er nennt sich Roman und widersetzt sich all seinen Konventionen, verweigert sich der tradierten Romanstruktur und gibt sich der Serialität der Bilder hin, schildert die Stadt, wie sie der Flaneur sieht: unzusammenhängend, szenisch, arbiträr. Er anerkennt das Zentrum, verleugnet jedoch nicht die unübersehbaren „haarrisse“ (83), die es durchziehen, wie ein „Riß in unserem Kopf“ (Nachwort, 117).
Das vorliegende Referat soll nun die kulturelle Geografie der Stadtmitte aus der Sicht Wimmers darstellen, sowie ihre Räume und Figurationen beleuchten. Die Brüchigkeit und gleichzeitige Widerständigkeit des Wiener Stadtzentrums exemplifiziert Wimmer in seinen zahlreichen, lose aneinandergereihten Sprachexperimenten und Erzählmosaiken. Es geht dabei nicht zuletzt um die Dinge und ihre (An)Ordnung und nicht vorwiegend um psychologische Prozesse, wie die Kritik mitunter vorschnell feststellt. Der Romanschluss „ich sagte es, scheiß auf überich“ (115) erscheint programmatisch: beobachten statt zu interpretieren, beschreiben statt zu erklären, den Fluss der Dinge akzeptieren, anstatt sie in eine (Roman-)Struktur zu pressen — das ist die hier vorgestellte Methode des Herbert J. Wimmer, mit der er die Innere Stadt umkreist und in all ihrer Widersprüchlichkeit darstellt.

Herbert J. Wimmer: Innere Stadt. Roman. Wien (Sonderzahl) 1991.

Programm
Nozawa Onsen
Freitag, 15. November 2013
18:00Eröffnung und Abendessen
20:00Wiener Wut: kurze Einführung ins Werk von H. J. Wimmer Walter Vogl
20:30Wortneubildungen in Wimmers Lyrik und Prosa Christian Zemsauer
21:00Lesung 一 Herbert J. Wimmer
Samstag, 16. November 2013
09:30Innere Stadt - Wimmers Wien und die kulturelle Geografie der Stadtmitte Leo Schlöndorff
10:00Wozu Nerven laufen? Kazuo Hosaka
10:30Lesung 二 Herbert J. Wimmer
11:00Gedichte als Speicher der Teile des Ganzen - Über Ganze Teile Shihoko Ora
11:30Leseeindrücke zum Grünen Anker Specht
12:15Mittagspause
15:00Film als Textmodell: Kommentar zu unsichtbare filme. ein relativer roman Kentaro Kawashima
15:30Werkstattgespräch Herbert J. Wimmer
16:30Lesung 三 Herbert J. Wimmer
17:00Entscheidung, Erinnerung, Erzählung als Schöpfungsbedingungen der Zeitgeschichte. Zum Hörspiel Demiurginnen­-Duell oder die Bearbeitung der Gegenwart inkl. Hörspielvorführung Wakiko Kobayashi
18:00Abendessen
19:30Prater: ein Film von Ulrike Ottinger (104min) Herbert J. Wimmer
Sonntag, 17. November 2013
09:30Ein medienkritisches Sprachspiel im Zeitalter der Spektakel: Anmerkungen zu auto stop tempo texte Eiji Kouno
10:00Membran I: Zeit in Herbert J. Wimmers membran.roman Erich Meuthen
10:30Membran II: Statements & Diskussion Herbert J. Wimmer
11:30Lesung 四 Herbert J. Wimmer
12:00Schlussworte