32. Seminar zur österreichischen Gegenwartsliteratur in Japan
オーストリア現代文学ゼミナール
28. Oktober 2023
Sophia Universität, Tokio
Mit Milena Michiko Flašar
Parallelen und Zuspitzungen.
Die Erzähltechniken Doron Rabinovicis
Leopold Federmair

 
 
 

Die Kunst des Erzählens ist eine Kunst der Verdoppelung.
Ricardo Piglia

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In Doron Rabinovicis Roman Andernorts nimmt Ethan, die zentrale Hauptfigur, an einer Party im Haus einer offenbar jüdischstämmigen Frau teil. Die Szene spielt in Wien, in Transdanubien, „jenseits des Stromes“. Beim Wiedersehen mit der Hausherrin fällt Ethan eine jiddische Liedzeile ein, und später beobachtet er, daß man sich unter den Gästen „die neuen Varianten alter Witze erzählte“. (A 38) In einem Radioessay, in dem Rabinovici seinen Hörern die Funktionsweise des jüdischen Witzes erläutert und nebenher eine Reihe von Witzen erzählt, betont er, dieses Genre sei kein museales Objekt: „Der jüdische Witz entwickelt sich weiter, und jede Anekdote kehrt in verschiedenen Varianten wieder.“ (CC 63) Ganz allgemein ist ein Merkmal des Witzes seine Kürze und Erzählbewegung hin auf eine Pointe, die eine unerwartete Wendung, einen neuen Zusammenhang oder eine erstaunliche conclusio bringt. Rabinovici hebt in seinem Essay auch dieses Merkmal hervor. Seine Romane und Erzählungen zeigen, daß es ihm oft um die Herausarbeitung einer Pointe zu tun ist, auch in Passagen, die nicht unbedingt „witzig“ wirken.

Die erste Buchveröffentlichung Rabinovicis ist eine Sammlung kurzer Erzählungen, im Untertitel als Stories bezeichnet. Die erste Geschichte fungiert darin als „Prolog“; sie erhält dadurch programmatische Bedeutung, gibt also den Ton für das Nachfolgende an und dem Leser einen Lektüreschlüssel an die Hand. Zumal das Buch als Ganzes diesen Titel trägt: Papirnik. Die Geschichte handelt von einer Zweierbeziehung, die Frau ist Raucherin und spielt mitunter, so könnte man die Symbolik schon bei der ersten Lektüre verstehen, mit dem Feuer; der Mann hingegen ist, wie im Textverlauf zunehmend klar wird, aus Papier. Die Erzählung weitet sich rasch zur Allegorie, dem Leser wird unauffällig nahegelegt, den Text auf zwei Bedeutungsebenen zu denken und die beiden Ebenen zusammenzudenken. Worin besteht letztlich der Sinn der Allegorie? Nimmt man die Erzählung als Prolog, so könnte ein Sinn dieses Textes der Hinweis sein, daß die nachfolgenden Geschichten papieren sind, zwar vielleicht Feuer entzünden, Leidenschaften wecken können, dies aber letztlich nur auf der Ebene von Erfindung und Schrift. Die erste Story des Buchs führt Erotik als einen Akt des Lesens vor und zugleich das Lesen als erotischen Akt, der einen Lustgewinn bringt, aber auch gefährlich sein kann. Du selbst bist das Rätsel, lautet die pointenhafte conclusio der Prologgeschichte. Der papierene Text kann dem Leser zu realer Selbsterkenntnis verhelfen.
So oder ähnlich hätte es auch Sigmund Freud formulieren können. (Freud, der einen Aufsatz über „den Witz und seine Beziehung zum Unbewußten“ schrieb, stammte übrigens aus Mähren; der Name Papirnik ist vor allem in dieser Gegend verbreitet.) Im Text des Traums und des Witzes, aber auch in zahllosen Texten, die bewußte Zustände reflektieren, ist der Sinn unbewußter Regungen verschlüsselt. Rabinovicis Erzählung Papirnik endet mit einem höchst überraschenden Absatz, der vorher durch kein Textelement angekündigt wird. „Da raste ein Grollen noch, und eine schnittige Stimme erklang. Über Mikrophone wurde lauthin verkündet: ‚Hiermit übergebe ich die Schriften Sigmund Freuds den Flammen’, und ein großer Jubel brandete auf.“ (P 14) Nachdem der Leser im Verlauf der Lektüre die allegorische Doppeldeutigkeit der Erzählung erkannt hat, wird er ganz am Ende mit einer weiteren Verdoppelung konfrontiert. Zunächst scheint die Geschichte von einer Zweierbeziehung zu handeln – eines der wiederkehrenden Themen in Rabinovicis Büchern. Auch in dieser Hinsicht deutet der Prolog auf das Buch und sogar auf die später publizierten Bücher des Autors voraus. Nun aber, nachdem die Beziehung durchlebt und gewissermaßen konsumiert1 ist, zeigt sich, daß es in Wahrheit um eine historische Szene ging, um die Verbrennung der Bücher Sigmund Freuds – neben vielen anderen Büchern – durch die Nationalsozialisten. Verbrannt und vernichtet wurden damals nicht nur die Schriftwerke von Juden und politischen Gegnern, sondern – mit den Werken Freuds – auch eine ergiebige, weil in die Tiefe gehende Interpretationsweise von Texten. Der Autor Rabinovici schreibt mit seinen Texten viele Jahre nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft gegen ideologisch motivierte, oberflächliche, vereinfachende Rezeptionsweisen an. Insofern könnte man den Witz, den er in jenem Radioessay erzählte, heute, im Jahr 2012, auf ihn selbst beziehen. Ich denke an das Wiener Café Korb, wo ich Doron zuletzt traf. Der Kellner empfahl mir einen Zwetschkenstrudel und ließ sich später die Taschenbuchausgabe von Andernorts signieren.

„Josef, bringen Sie mir einen Tee und den ‚Völkischen Beobachter’“, bittet ein Jude 1946 im Kaffeehaus. Darauf der Ober: „Aber gnädiger Herr, ich habe Ihnen doch schon hundertmal gesagt, den ‚Völkischen Beobachter’ gibt es nicht mehr.“ – „Ich weiß“, meint der Jude: „Aber ich kann’s nicht oft genug hören.“ (CC 66)

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Ich wage es nicht zuletzt deshalb, diesen Witz auf ihn anzuwenden, weil der Autor in seinem Essay hervorhob, jüdischer Humor sei „das Lachen über sich selbst und nicht der Spott über die anderen“. (CC 61) Er präzisiert dort, daß der Witz – als Genre – „unseren blinden Fleck“ entlarve. (CC 62) Der blinde Fleck, das sind Stellen, die im gewöhnlichen Leben und in anderen, „ernsten“ Texten nicht gesehen werden bzw. nicht vorkommen. In Über die Säure des Regens, eine der Geschichten des Erzählbands Papirnik, symbolisiert Rabinovici den blinden Fleck durch einen Eimer, der mitten in einem Kongreßsaal steht und von Regenwasser angefüllt wird, das durch eine undichte Stelle in der Decke tropft. Die Kongreßteilnehmer schenken dem Eimer keine Beachtung – nicht einmal, als er überzulaufen beginnt. Auch diese Erzählung spielt auf zwei bzw. drei Ebenen. Sie ist eine „Sekundenerzählung“ in dem Sinn, daß ein psychischer Ablauf im Inneren der Hauptfigur, der nur wenige Sekunden dauert, im Text als Fiktion mit einem wesentlich längeren Zeitablauf entfaltet wird. Im komprimierten zeitlichen Kern spielt sich eine aus Ängsten und biographischen Elementen gestrickte Geschichte ab. Rauch, die zentrale Figur, soll einen Vortrag zu einem Umweltthema halten, vermutlich über den Sauren Regen. Er zögert einen Moment und teilt den Anwesenden dann mit (aber hier sind wir bereits auf der Ebene der inneren Fiktion), er werde schweigen. Diese Fiktion, die natürlich bereits einer Fiktion eingelagert ist, nämlich dem Text des realen Autors Doron Rabinovici, schildert das zuerst verbale und dann immer handgreiflichere Geplänkel zwischen Rauch und seinen Kollegen, das mit einer „Exekution“ – dies dann der Titel der im Erzählband folgenden Geschichte – zu enden droht. Unter den Anwesenden ist auch Ana, die ehemalige Freundin Rauchs. In sehr kurzen Flash-Backs wird die Geschichte ihrer gescheiterten, womöglich noch ein wenig schwelenden Beziehung rekapituliert. Der Text kehrt an seinem Ende auf die Ebene der Wirklichkeit (innerhalb von Rabinovicis Fiktion) zurück. Die letzten Sätze lauten, pointenhaft verknappt: „Der Regen brandete auf. Vom Rednerpult aus blickte Rauch ins Auditorium: Ana war gegangen.“ (P 99) Alles deutet darauf hin, daß Rauch seinen Vortrag nun halten wird.
Worin liegt hier die Pointe? Darin, daß plötzlich der blinde Fleck klar, sozusagen sehend oder eben, als Text, sprechend wird. Der Leser sieht, sofern er den Text zu entschlüsseln versteht, daß der zweite, vielleicht sogar der wesentliche Grund für die Verstörung der Hauptfigur die zerbrochene Beziehung zu Ana ist. Man kann den Textsinn sogar in dem Sinn interpretieren, daß die Beziehung erst in diesem Augenblick, in der Sekundenerzählung, endgültig bricht. Das ist, am Ende des Textes und erzähltechnisch zugespitzt, die Klimax der Story. Die private Geschichte, die politisch grundierte Umwelt-Geschichte und die vorgängige Situation eines Kongresses an einem Regentag laufen parallel, und zwischen den zwei bzw. drei Ebenen kann der Leser Beziehungen herstellen, die nicht ausschließlich Beziehungen der Ähnlichkeit sein müssen, es können darin auch Widersprüche und Reibungen enthalten sein. Die Mehrschichtigkeit wird, wie es einem am jüdischen Witz geschulten Erzählen entspricht, immer wieder in einzelnen Worten und Wendungen kondensiert.
Dies gilt bereits für den Titel „Über die Säure des Regens.“ Der benannte Regen ist scharf, ätzend. Diese Eigenschaft läßt sich sowohl auf das bekannte Umweltverschmutzungssymptom als auch auf die Korrosion einer Liebesbeziehung beziehen. Kapl, ein Vertreter des Bürgermeisters der Stadt, in welcher der Kongreß stattfindet, „schwitzte überaus gewichtig“: so lautet der erste Satz der Erzählung. Durch die ungewohnte, semantisch abweichende Kombination zweier Wortelemente erhält bereits dieser auf den ersten Blick ganz unschuldige Satz ein Bedeutungsspiel, das semantische Überdeterminierung bewirkt und den wachen Leser auf einen nicht ganz normalen Handlungsverlauf vorbereitet. Der Funktionär, fettleibig, wird durch das Adverb suggeriert, ist „gewichtig“, er heischt nach (politischer) Bedeutsamkeit. Überdies könnte man eine Parallele von seinem Schwitzen zu dem während des Kongresses ständig prasselnden und tropfenden Regenwasser ziehen. Rabinovici greift vor allem in der Anfangspassage, die lediglich die äußere, „reale“ Situation beschreibt, auf die Technik des Wortspiels, der Überdeterminierung im je einzelnen Ausdruck, zurück; später konzentriert sich die Erzählung dann auf den Fortgang der Handlung, die Arbeit an der Sprachform tritt zurück. In den ersten Wortmeldungen der Kongreßteilnehmer, als sich die Handlung bereits in den psychischen Innenraum der Hauptfigur verlagert hat, wird die Irrealität zunächst sprachlich markiert durch Prägungen wie „Ihre Nachlässe, Ihre Ablässe“ oder „Sie sammeln mich ein, um ihre Kollektion zu komplettieren“ (P 93) – Assonanzen, Wortpermutationen und Hintersinnigkeiten, wie sie in nüchternen Diskussionen gewöhnlich nicht vorkommen.
Wie schon erwähnt, bemerkt keine der Figuren im Saal den vom Autor schon ganz zu Beginn der Story als – für den Leser – auffälliges Objekt in die Erzählung plazierten Eimer. Allerdings gibt es eine Ausnahme, den Hauswart nämlich, „der in den Saal geschlurft kam, die Kübel auszutauschen“ (P 99). Umgekehrt ist der Hauswart der einzige, der von der halluzinatorischen, zunehmend „verrückten“ Fiktion überhaupt nicht berührt wird. Er „schlurft“, geht also langsam, ohne sich um die bedrohliche Auseinandersetzung um die Hauptfigur, die jeden Augenblick gelyncht werden könnte, zu kümmern. Der Hauswart verkörpert mit seiner schlichten, beharrlichen Handlung das Realitätsprinzip, das Rauch in seinem Bewußtsein für die wenigen hier erzählten Sekunden zugunsten der literarischen Fiktion verloren hat. Was sich statt dessen auf der psychisch-fiktionalen Bühne Vortritt verschafft, ist – nein, nicht das Lustprinzip, sondern das Prinzip Angst, das wir alle kennen, denn schließlich: Wer hat sich in den Sekunden vor einem Vortrag noch nicht gefragt, ob es nicht besser wäre, er würde schweigen, weil seine Ausführungen vielleicht nicht den Anforderungen genügen. Es ist die Angst erzeugende Instanz des Über-Ichs, die sich in solchen Augenblicken meldet. Und im Falle Rauchs könnte dazu noch die Angst kommen, Ana endgültig zu verlieren. Seine paranoide Imagination findet ihren Ausdruck in der narrativ entfalteten Sekundenphantasie.
In Rabinovicis Erzählungen sind Geschichte und Gesellschaftspolitik häufig mit persönlichen Geschichten verzahnt. So auch in Über die Säure des Regens, wo diese beiden Stränge gleichsam enggeführt werden, ohne miteinander zu verschmelzen; am Ende driften sie wieder auseinander, Ana geht weg. Ähnlich verhält es sich im Roman Andernorts, nur daß dort die Berührungen zwischen Politisch-Historischem und Persönlichem – ebenfalls eine Zweierbeziehungsgeschichte – bedingt durch das andere Genre vielfältiger und verwickelter sind. Was in den Geschichten von Papirnik wie auch in einzelnen, geschlossenen Episoden des Romans durch den Witz inspiriert ist, weitet sich im Romangefüge zur lockeren Struktur der Verwechslungskomödie. Letzten Endes ist Andernorts eine realitätsorientierte Fiktion, die im Bereich dessen bleibt, was als wahrscheinlich gilt. Geschichten wie Papirnik oder Über die Säure des Regens arbeiten jedoch mit einer Dualität, die zu der Dualität zwischen öffentlichem und privatem Bereich hinzukommt oder ihr sogar zugrundeliegt. Wirklichkeit – mitsamt ihren Wahrscheinlichkeiten – kippt unmerklich in Phantasie und Halluzination (mitsamt ihren Unwahrscheinlichkeiten), und auch die umgekehrte Bewegung findet statt, vom Phantastischen zurück zur (fiktionalen) Wirklichkeit. Darin scheint mir der strukturelle Witz von Rabinovicis Erzählverfahren zu liegen, das oftmals auf eine gedankenscharfe Pointe hinausläuft. In der einen Sekunde – oder Minute, auf genaue Messung kommt es hier nicht an – sind zwei Lebensgeschichten und allerlei dunkle Ängste enthalten, und überdies, wenn auch nur in Andeutungen, die menschheitlichen Ängste und Bedrohungen, die unseren Planeten betreffen.
Soweit ich sehe, pflegt Rabinovici keinen vertrauten Umgang mit dem Werk von Jorge Luis Borges. Trotzdem fällt die Ähnlichkeit zu dem Verfahren auf, das der argentinische Autor in seiner Erzählung vom Aleph meisterlich vorgeführt hat: Im geringsten aller Zeichen, dem Hauchlaut, steckt das Universum, und die ganze Kunst besteht darin, dieses Verhältnis anschaulich zu machen (was zu einem guten Teil heißt, den rechten Augenblick abwarten zu können). Auf den Faktor Zeit bezogen hat Borges dieses Prinzip in Das geheime Wunder exemplarisch umgesetzt. Ein Mann, übrigens ein Prager Jude, soll exekutiert werden. In dem Augenblick, da er erschossen wird, gewährt Gott ihm einen Aufschub, der realiter nur eine Sekunde dauert, in dem sich aber sein ganzes potentielles Leben entfaltet. In Rabinovicis Erzählung Die Exekution wird die Fiktionalität der Geschichte dadurch unterstrichen, daß es sich um eine Theateraufführung und deren Umstände handelt. Ende des 20. Jahrhunderts, in der Epoche der sogenannten Postmoderne, rechnet der Leser fast damit, daß die Wirklichkeit die (fiktionale) Theaterillusion zerreißen wird. Boris, die Hauptfigur, wird am Ende, so scheint es, erschossen, aber die Entscheidung, ob der Tod „wirklich“ oder nur fiktional eintritt, diese letzte conclusio muß in der Schwebe bleiben. Formal setzt Rabinovici auch hier wieder einen pointenhaften, äußerst knapp formulierten Schlußpunkt: „Beim Aufprall der Gewehre riß es Boris unwillkürlich hoch. ‚Boris!’ konnte er noch Ninons Stimme vernehmen, da fuhr ihm ein heißer Schmerz mitten durch die Brust.“ (P 109) Ninon ist Boris’ ehemalige Geliebte. Auch in dieser Erzählung kommt eine Beziehungs- und Trennungsgeschichte ins Spiel. Die beiden haben irgendwann begonnen, einander auf der Bühne zu bekämpfen. Sie ziehen die Wirklichkeit in das Schauspiel hinein, während die Zuschauer glauben, alles sei „nur“ Spiel: „Das Publikum bemerkte voll Entzücken das Rucken und Zischen auf der Bühne, glaubte jedoch, daß dies Teil der avantgardistischen Aufführung wäre.“ (P 104) Der (reale?) Tod auf der Bühne ist die letzte Zuspitzung dieser anfangs eher harmlosen Ambivalenz.

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In der Erzählung Über die Säure des Regens, die ich hier ins Zentrum meiner Überlegungen gestellt habe, färbt der Wortwitz anfangs einen Gutteil des semantischen Feldes; später tritt er zugunsten der inhaltlichen Erzähldynamik zurück. In manchen, nicht allzu vielen, Passagen erinnert Rabinovicis Schreibweise an jene, die Elfriede Jelinek im Verlauf ihres Schaffens entwickelt hat. In einer Analyse ihres Romans Lust habe ich zu zeigen versucht, daß und wie die Erzählung dort nicht in erster Linie narrativen, sondern sprachlichen, sprachspielerischen Logiken folgt. Vergegenwärtigt man sich die Handlungsgeschichte, die von den zahllosen Sprachkunststücken überwuchert wird, so kommt man zur Feststellung, daß diese sehr einfach und stereotyp ist (und zwar aufgrund einer bewußten, textstrategischen Entscheidung der Autorin). Bei Rabinovici verhält es sich im Vergleich dazu umgekehrt, das Spiel mit den Worten führt inhaltlich-narrative Konstellationen ein, die in der Folge dann mehr und mehr in den Vordergrund treten und eine durch die Wortwahl nur noch wenig beeinflußte Dynamik entwickeln. In einem Text wie Über die Säure des Regens hat es fast den Anschein, als emanzipierte sich die Erzählung nach und nach von den Worten. Sie kommt dann jenem Ideal des „stillosen Stils“ nahe, das besonders in der angelsächsischen Literatur immer wieder beschworen wird und von jüdisch-amerikanischen Erzählern wie Saul Bellow oder Philip Roth gepflegt wird. Der Leser soll bei der Wahrnehmung der Geschichte nicht merken, was die Wörter mit ihm machen. Die Form wird vom Inhalt gewissermaßen aufgesogen.
Ein Roman wie Rabinovicis Andernorts verläuft in klar umrissenen Strängen, die narrative Bewegung beschreibt biographische Abläufe, oft detailliert, dann wieder gerafft; die Beweggründe sind kausal, pragmatisch oder psychisch bestimmt, nicht aber durch die Sprache selbst. Rabinovici baut dabei Anekdoten und kurze Geschichten ein, die nicht selten witzig sind, zuweilen dem Witz-Genre nahe kommen und die Verhältnisse auf den Punkt bringen oder, ein Gebot der Erzählökonomie, den Lebenslauf einer Figur kurz zusammenfassen. Auch darin könnte man eine Anwendung des Aleph-Prinzips sehen: der moderne jüdische Makrokosmos mitsamt seinen Spannungen (Geschichte-Gegenwart, orthodoxe und laizistische Juden) in einer Vielzahl von Mikrokosmen. So etwa die Geschichte vom letzten Tag, den ein jüdischer Emigrant während der Nazizeit in Wien verbringt: Er geht zum Herrenausstatter und erlaubt sich einen allerletzten Witz, der wie ein kleiner, privater Aufstand gegen den Antisemitismus wirkt. Es ist ein „performativer Witz“, insofern der Mann durch eine Geste auf einen sprachlichen sprachlichen Slogan – „Wir verkaufen nicht an Juden!“ – reagiert. (A 59) Nicht unähnlich eine andere, in Tel Aviv spielende Szene, die ebenfalls als Witz in alltäglichem Kontext wirkt:

In der Buchhandlung am Eck konnten die Werke Goethes, Schillers und Heines gekauft werden. Herzl und Freud gab es hier nur im Original. Daneben eine Zahnarztpraxis mit dem Türschild: „Hier werden alle Sprachen gesprochen!“ Eines Tages wagte Felix die Frage: „Sie sprechen alle Sprachen, Herr Doktor Krohn?“ Worauf der Dentist sich über Felix beugte und sagte: „Ich doch nicht, aber meine Patienten.“ (A 112)2

 

Durch seine Interpretation des „Slogans“, dessen sprachliche Mehrdeutigkeit Felix zunächst nicht erkannt hat, setzt der Doktor die witzgemäße Pointe.
In einem Rückblick auf seine Erfahrungen im Wiener Kindergarten erfahren wir auf knappem Raum viel über die frühen sozialen Prägungen der Hauptfigur Ethan. Auch diese Passage schließt mit einer pointierten conclusio. Ethans Vater erklärt dem Kind: „Wir, Ethan, lassen uns nicht mehr auf den Kopf spucken, um danach zu sagen, daß es regnet. Merk dir das, Ethan. Nie mehr! Du bist ein Sabre. Hörst du, Tuschtusch.“ (A 231) Das kollektive Wir bezieht sich einerseits auf die Familie, andererseits aber auf das ganze jüdische Volk, denn der Leser erfährt im Verlauf der Romanhandlung, daß der Vater ein Überlebender der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie ist. Der blinde Fleck, auf den sich seine Rede hier bezieht, ist das Übermaß an Anpassung und Schicksalsergebenheit, mit dem sich manche Juden in vergangenen Zeiten selbst geschadet haben. Über den Wiener Judenrat, eine den Juden von der nationalsozialistischen Administration aufgezwungene Einrichtung, schreibt Rabinovici in einer umfangreichen geschichtswissenschaftlichen Studie: „Nicht der Wunsch, selbst zu überleben, war für die Leitung der jüdischen Gemeinde entscheidend, sondern die anfängliche Hoffnung, im Handel mit der SS Juden und Jüdinnen durch Auswanderung zu retten. Später ging es darum, die totale Vernichtung aufzuhalten; und am Ende nur noch darum, die Qualen lindern zu helfen.“ (Instanzen 22) Auf diesen ohnmächtigen Versuch, die eigene Haut durch Kooperation zu retten, spielen im Roman die Worte von Ethans Vater an. Der Roman mit seiner erzählten Fiktion verhält sich zur historischen Wirklichkeit wie ein Mikrokosmos zum Makrokosmos. Er spitzt die kollektive Erfahrung in seinen Erzählsträngen und Episoden zu. Das Einleitungskapitel von Rabinovicis historischer Studie ist mit der bezeichnenden Überschrift „Die Schuld des Überlebens“ versehen. Die Wortfolge enthält ein Moment der Paradoxie, eines Widerspruchs, der Jahrzehnte nach den Ereignissen unauflösbar bleibt. „Auch im nachhinein tut sich keine Handlungsalternative zum damaligen Dilemma auf“, resümiert der Historiker Rabinovici (Instanzen 426). Auf Dilemmata reagiert der Erzähler Rabinovici mit seiner zuspitzenden, den Widerspruch auf die Spitze treibenden Erzählweise.


1 Im Französischen bedeutet „consumer“ sowohl „verbrennen“ als auch „verzehren“, „konsumieren“. In Rabinovicis Erzählung verbrennt die Beziehung, und gleichzeitig konsumiert der Leser den Text.


2 In einer früheren Fassung dieses Essays war mir eine – durchaus Freudsche – Verschreibung unterlaufen: statt „Patienten“ hatte ich „Interpreten“ geschrieben. Die Leute, die glauben, alle Sprachen zu verstehen, wären demnach die beflissenen Interpreten. Sie untersuchen den Text auf einen geheimen, verborgenen Sinn und entwickeln dabei ein geradezu paranoides Gespür. Was kann nicht alles zum Zeichen für die Verschwörung des sich dem einfachen Verständnis entziehenden Textes werden? Ricardo Piglia hat vom „Delirium der Interpretation“ gesprochen. Er hat aber auch darauf hingewiesen, daß der verborgene Sinn nicht von der Interpretation abhängig ist, sondern durch die Form der Erzählung produziert wird. „Wie erzählt man eine Geschichte, während man eine andere erzählt? Diese Frage bringt die technischen Probleme der Erzählung auf den Begriff.“ (Piglia: Thesen über die Erzählung, in: Kurzformen, S. 67) Der besonnene Interpret sollte versuchen, eine Brücke von seiner hermeneutischen Paranoia zur Textform und ihren Bedeutungen zu schlagen.

Literatur

Rabinovici, Doron: Papirnik. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1994 (Sigle = P)
Ders.: Instanzen der Ohnmacht. Wien 1938-1945. Der Weg zum Judenrat. Jüdischer Verlag, Frankfurt am Main 2000 (Instanzen)
Ders.: Credo und Credit. Einmischungen. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2001 (CC)
Ders.: Andernorts. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2010 (A)

Barthes, Roland: Die Lust am Text. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1974
Borges, Jorge Luis: Fiktionen. Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 1992
Federmair, Leopold: Sprachgewalt als Gewalt gegen die Sprache. Zu Jelineks „Lust“, in: Weimarer Beiträge 52 (2006), Heft 1, S. 50-62
Freud, Sigmund: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten. S. Fischer, Frankfurt am Main 1986
Ueda, Yasunari: Textsorte Witz. Grundsätzliche Überlegungen zum Problem sprachlicher Kommunizierbarkeit, in: Nidaba 39 (2010), S. 11-20